Klar, die Schlitteda zwischen St. Moritz und Silvaplana ist ein echter Hingucker für Touristen. Aber der alte Brauch ist viel mehr als das. Er verkörpert Engadiner Tradition und Kultur. Und weckt tiefe Emotionen.
Die Kälte hat den Engadiner Morgen fest im Griff. Festlich aufgez.umte Pferde schnauben leise, ihr Atem gefriert in der trockenen Luft. «Es ist nicht das erste Mal, dass sie bei einer Schlitteda dabei sind. Die Tiere spüren, dass sie und ihre Passagiere bald im Mittelpunkt stehen werden», sagt Marco Murbach. Der Einheimische ist Mitorganisator dieses Brauches, der jeweils an einem Sonntag im Januar oder Februar stattfindet und zu den gesellschaftlichen Höhepunkten des Engadiner Winters zählt.
Die Ursprünge der Schlitteda reichen weit in die Vergangenheit zurück. In den einst langen und schneereichen Wintern prägten Pferde mit Holzschlitten das Strassenbild im Engadin – und nicht teure Blechschlitten mit Pferdestärken. Autos sind in Graubünden erst seit rund 100 Jahren zugelassen. «Ob Beerdigung oder Waldarbeit, Hochzeit, Arzt, Hebamme oder einfach der Besuch von Verwandten – ohne Pferdeschlitten ging damals nichts», sagt die langjährige Schlitteda-Teilnehmerin Catti Moder.
Dann setzt sich die Kolonne in Bewegung. Die prächtigen Pferdegeschirre mit den teilweise gestickten Schellenriemen kündigen den Menschen am Strassenrand an, dass hier etwas Besonderes passiert. Ab und zu steigt ein «Viva la Schlitteda» oder ein Juchzer in die klare Engadiner Luft. «Auf diesen Moment freuen wir uns hier fast wie auf Weihnachten», sagt Murbach. «Bei den Älteren werden Erinnerungen wach an Zeiten, in denen sie und ihre Liebsten selbst auf dem Schlitten sassen.» Denn früher war die Schlittenfahrt jungen Paaren vorbehalten, die ihre Verbindung vielleicht zum ersten Mal der Öffentlichkeit kundtaten. Auch Catti Moder ist ihrem späteren Mann, während einer Schlitteda «nahegekommen», wie sie erzählt.
In Zeiten von Tinder, Parship und Co. braucht es die Schlitteda, die es in vielen Engadiner Dörfern gab und teilweise noch gibt, längst nicht mehr. Auf den Schlitten sitzen heute in der Regel auch keine Frischverliebten mehr, sondern Menschen, die sich aus den verschiedensten Gründen nahestehen. Warum wird der Brauch also weitergeführt? «Weil es uns gefällt», sagt Murbach und überlässt Catti Moder die ausführliche Erklärung. Diese geht so: «Für uns, die wir hier mitmachen, ist die Schlitteda der schönste Tag im Jahr. Wenn ich die Pferde kommen sehe und die Schlitten eingespannt werden, kommen mir Tränen der Freude und der Rührung. Dieser Brauch ist mit so viel Liebe und Vertrautheit verbunden. Das erlebt man sonst kaum je.»
Die Schlitten haben nichts mit den früheren Transport- oder Arbeitsger.ten zu tun. «Es sind kleine, bemalte Kunstwerke, verziert mit Blumenmustern oder mit eingeschnitzten Familienwappen», erzählt Murbach. Entsprechend werden sie unterm Jahr gehegt und gepflegt und nur für die Schlitteda hervorgenommen. Einige tragen Verzierungen mit Köpfen wilder Tiere und gar aus Gold. Die Männer stehen als Lenker hinten auf dem Gefährt, die Füsse auf den Kufen abgestützt. Die Begleiterin darf vorne auf dem Damensitz Platz nehmen, der zugleich als kleiner Kasten für die Pferdedecke und weitere Utensilien dient.
Wo immer die Schlitteda vorbeikommt, wird sie mit Applaus oder zumindest mit einem Lächeln begrüsst. Die Touristen fotografieren, was die Handys hergeben. Die Sujets laden ja auch wirklich dazu ein: schön geschmückte Pferde, Männer in Biedermeier-Kostümen und Frauen in der reich bestickten Engadiner Festtracht. Diese Tracht, so sagt man(n), macht Engadinerinnen jeden Alters noch selbstbewusster. Und noch schöner.
Das Jahr ist jung, die Tage noch kurz und die Sonne über dem Hochtal bekommt schon Schlagseite. Doch was wäre ein solcher Tag ohne abschliessendes Fest, ohne Musik und Tanz? Und ohne das Versprechen, nächstes Jahr wieder dabei zu sein? Denn wie sagt Catti Moder: «Die Schlitteda gehört seit Generationen zu uns, sie ist Teil unserer Kultur, unseres Erbes und unseres Selbstverständnisses. All das pflegen wir mit Herz und Inbrunst. Lang lebe die Schlitteda!» (fb)
Prossima fermata – Schlitteda anno 1965
Ein Blick in die Vergangenheit des Engadiner Brauchs
In den Contura Stories bringen wir Ihnen die vielfältige Welt von Graubünden näher. Tauchen Sie ein in die Geschichten, die sich hinter den Kulissen von invia abspielen.