Weihnachten oder Geburtstage sind für die Einheimischen von Splügen wichtig. Doch es gibt den einen, den ganz grossen Tag im Jahr, den seit jeher hier niemand verpasst oder vergisst. Der «Pschuuri»-Mittwoch ist im Rheinwald heilig.
Der Winter liefert sich bereits Rückzugsgefechte mit dem warmen Föhn, der ein paar dickbauchige Wolken über den blauen Himmel des Rheinwalds treibt. An einer Weggabelung in Splügen murmeln ein paar alte Frauen walserdeutsche Worte, die nur sie selbst verstehen. Bald sind sie verschwunden, das Murmeln verstummt. Doch woher kommt dieses Schellengebimmel? Und flitzte da eben ein Mensch um die Ecke – oder war es ein Tier? So schnell aufgetaucht und verschwunden, dass man im Nachhinein gar nicht mehr sicher ist, ob da überhaupt etwas war. Über Splügen liegt eine merkwürdig angespannte Stimmung, die selbst Auswärtige deutlich verspüren.
Es ist Aschermittwoch und seit Menschengedenken und darüber hinaus das wichtigste Ereignis des Jahres in Splügen: Es ist «Pschuuri». Fruchtbarkeitsritual und Fastnachtsbrauch in einem. Ein Tag voller Emotionen, wilder Bräuche, uralter Traditionen. In den Tag gestartet wird ganz gesittet mit den kleinen und kleinsten Dorfbewohnern. «Die Kindergärtler und Vorschulkinder sind verkleidet als Feen, Prinzessinnen oder Clowns», erzählt Sabina Simmen, Splügnerin durch und durch. «Sie klopfen an die Haustüren, die einen scheu, die anderen vorwitzig, und sagen den uralten Spruch auf Walserdeutsch: ‹Pschuuri, Pschuuri-Mittwuchä, äs Eitschi oder äs Meitschi›.» Doch in diesem Alter geht es noch nicht um Eier oder Mädchen, sondern um Süssigkeiten, welche die Kinder in ihrem «Tschiferli», einem geflochtenen Rückentragkorb, verstauen.
Nach dem Mittag sind die Strassen im Unterdorf plötzlich mit Menschen gefüllt. Darunter nicht wenige Touristen, die von diesem Brauch gehört haben. Das Gros des Publikums sind jedoch Heimweh- Splügnerinnen und -Splügner, die diesen besonderen Tag keinesfalls verpassen wollen. Sabina Simmen weiss: «Einmal mit dem Pschuuri-Virus infiziert, lässt er uns nicht mehr los.» Ausbrechen tut der Virus schon Tage vor dem besagten Mittwoch. «Es ist wie ein Fieber, das kontinuierlich steigt. Die Jungen freuen sich auf den Tag, die Alten hängen ihren Erinnerungen nach. In dieser Zeit gib es kaum ein anderes Gesprächsthema im Dorf», erzählt Simmen und auch ihre Augen leuchten.
Für Aussenstehende hat der Brauch etwas Archaisches, ja fast Gewalttätiges. Auf einmal sind um Schlag 13 Uhr aus dem Nichts die «Maschgerä» oder «Pschuuri-Rolli» da. Wilde Kerle, die sich in zerschlissene Lumpen hüllen und ihre Gesichter hinter Fellen verstecken. Jetzt wird auch klar, woher das Gebimmel von vorhin kam: Die furchteinflössenden Gestalten – manche sagen, sie kämen direkt aus dem Totenreich – tragen um den Bauch kleine Schellen. Vom Gesicht sind nur die Augen zu sehen. Falls überhaupt. «Masken, Felle und Kleider – die haben vor den heutigen ‹Maschgerä› schon ihre Brüder oder Väter getragen», erzählt Sabina Simmen.
Nur von einheimischen Mädchen und jungen Frauen keine Spur. Zumindest vorläufig. Die haben sich versteckt, hoffen insgeheim, dass einer der Wilden sie findet und dann eben «pschuuret», also ihr Gesicht mit einer Mischung aus Fett, Russ oder auch Schuhwichse vollständig schwärzt; die exakte Zusammensetzung kennen nur die Männer. Das Versteckspiel beginnt am späteren Nachmittag. Mitten auf den Wegen und Strassen im Dorf finden – ja, man kann es nicht anders sagen – Kämpfe statt. «Früher haben die Mädchen wahrscheinlich schneller nachgegeben. Aber es ist wohl ein Zeichen der Emanzipation, dass sich die Frauen heute mit aller Kraft zur Wehr setzen», mutmasst Sabina Simmen.
Werden die Frauen von den Wilden nicht gefunden, verlassen sie ihr Versteck, damit auch sie bis zum Abend ein schwarzes Gesicht haben, also «pschuuret» sind. Dem spielerischen Treiben ist eine Prise Erotik nicht abzusprechen. Dorfchronist Richard G. Hänzi deutet den Brauch am Beginn des Frühlings als Fruchtbarkeitsritual, das Hof, Feld, Stall und auch Haus fruchtbar machen soll. Die Kraft der Liebe soll durch den «Pschuuri» geweckt und übertragen werden.
Gegen Abend und bis weit in die Nacht hinein folgt der dritte Teil des Walserbrauchs. Auch dieser steht in einem gewissen Sinn im Zeichen der Fruchtbarkeit: Verkleidet als sogenannte «Mannli» und «Wiibli» ziehen die jungen Männer als «Eierbättler» mit ihren Schellen durchs Dorf und verlangen Einlass: «Pschuuri, Pschuuri-Mittwuchä, äs Eitschi oder äs Meitschi», rufen sie und diesmal geht es wirklich um Eier und um Mädchen. Denn jedes «pschuureta» Mädchen wird als eine Art Wiedergutmachung zum abendlichen Festessen eingeladen, das in einem alten Stall stattfindet. Die erbettelten Eier werden zu einem Salat verarbeitet. Getrunken wird dazu ein – gemäss dem Chronisten – potenzfördernder Trank mit rohen Eiern, Wein, Zucker und Cognac.
Bis in die frühen Morgenstunden dauert das Fest. Viele der Teilnehmenden haben wohlweislich ein paar Tage freigenommen. «Früher war der Brauch eine der wenigen Möglichkeiten für junge Männer und Frauen, einander näher zu kommen», sagt Sabina Simmen. Dass heute auch in Splügen längst andere Zeiten angebrochen sind, ist klar. Und doch: «Noch Tage danach wird hier über den Anlass geredet. Und jeder und jede hat im Terminkalender bereits den ‹Pschuuri› des nächsten Jahres vorgemerkt.» (ba)
Pschuuri 2025 Mittwoch, 5. März
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