Er kennt das Oberengadin zu jeder Tages-, Nacht und Jahreszeit. Seit 15 Jahren lenkt Philipp Marx seinen Bus durch die Dörfer und kann nicht genug bekommen. Nicht wegen der Strassen, wegen der Passagiere.
Mit etwas gutem Willen kann man im Osten schon die ersten Sonnenstrahlen am Horizont erspähen. Langsam legt das Engadin seinen Nachtmantel ab und enthüllt seine ganze Pracht. «Das ist die schönste Zeit des Tages», sagt Philipp Marx, steigt in St. Moritz in seinen Bus, wirft die 200-PS-Maschine an und fährt Richtung Maloja. «Wenn sich dann die ersten Sonnenstrahlen über die Seen tasten und die Felsen rechts und links für einen kurzen Moment rot aufleuchten lassen … Ich erlebe das schon seit 15 Jahren. Und jedes Mal berührt es mich wieder aufs Neue.»
In Maloja warten dann schon die Menschen, die das Engadin am Laufen halten: Hotel- und Ladenpersonal, Angestellte, aber auch Schülerinnen und Schüler. Die einen verstecken sich noch hinter geschlossenen Augen, die anderen hinter dem offenen Laptop. Eine ältere Dame steht etwas hilflos an der Haltestation, hantiert mit dem Handy, konsultiert den Fahrplan und wird von Sekunde zu Sekunde nervöser. Philipp Marx sieht es, öffnet das Busfenster, lächelt und fragt, ob er helfen kann. Zunächst auf Deutsch, dann auf Italienisch, Französisch und schliesslich auf Englisch.
Irgendwie schaffen es die beiden, alle Sprachbarrieren zu überwinden: St. Moritz-Bahnhof ist ihr Ziel. Am Schluss lacht die Frau aus Erleichterung, Philipp Marx aus Freude: «Es sind solche Dinge, die die Arbeit als Busfahrer lebenswert machen», sagt er und fügt hinzu: «Die Routen kennt man irgendwann, aufregend sind sie nur noch bedingt. Aber die Menschen, die sind immer wieder anders – manchmal lustig, manchmal spannend, manchmal traurig, manchmal fröhlich. Und das mag ich an meinem Beruf. Ich mag Menschen.» Offenbar sogar jene, die ihren Frust, ihre Enttäuschung oder was auch immer am Nächstbesten auslassen – in diesem Fall am Busfahrer: «Du weisst nie, warum sie so sind. Vielleicht haben sie gerade einen Schicksalsschlag erlebt, häuslichen Streit oder was auch immer», sagt Marx. «Wir lernen ja in internen Kursen auch, wie man solche Situationen meistert. Manchmal hilft schon ein Lächeln, ein freundliches ‹Allegra› meinerseits – das kann Wunder wirken.» Und wenn nicht, dann hält er sich an die Maxime, die er im Militär gelernt hat: freundlich bleiben, höflich und professionell.
Philipp Marx hat andere Zeiten mit anderen Menschen an anderen Orten erlebt. Er stammt aus Düsseldorf, ist gelernter Sanitärinstallateur, war vier Jahre bei der Bundeswehr und sass mit 24 Jahren zum ersten Mal am Steuer eines Linienbusses. «Dann habe ich Freunde im Engadin besucht, und es war um mich geschehen. Schöner als hier kann es nirgends sein.» Dabei ist sich der Deutsche sehr bewusst, dass er im Engadin in einer Bubble lebt – nicht nur wegen der grandiosen Landschaften. «Natürlich muss man auch hier arbeiten, natürlich haben die Menschen auch im Engadin ihre Sorgen, natürlich gibt es auch hier dunkle Seiten. Manchmal setzt sich eine vereinsamte Seele vorne rechts so nahe wie möglich bei mir hin und fährt einfach ein oder zwei Stunden mit, um ein paar Worte zu wechseln. Aber verglichen mit der Grossstadt ist das hier das Paradies.» In diesem Paradies kennen anscheinend (fast) alle den 47-jährigen Buschauffeur. Beim Gang durch St. Moritz tönt es immer wieder auf Romanisch: «Ueila, cu stest?» (Wie geht es dir?). Er antwortet auf Romanisch und grinst: «Viel mehr als ein paar Brocken kann ich aber nicht.» Doch das Echo aus dem Umfeld zeigt, dass Marx, der in einer WG lebt, im Engadin kein Fremder mehr ist. Er tut auch einiges dafür, betreibt vom Reiten über das Mountainbiken bis zum Snowboarden jeden Sport, den man sich denken kann. Manchmal gerät er fast ins Philosophieren: «Von den älteren Kollegen weiss ich, dass ein Buschauffeur früher fast eine Respektsperson war. Diese Zeiten sind zwar vorbei. Doch Busfahren ist auch heute noch ein toller Beruf. Auf jeden Fall bei Engadin Bus. Aber klar, es kommt sehr auf die eigene Einstellung an.» Und wohl auch auf die positive Einstellung zum Leben als solches.
Langsam macht sich die Sonne auf den Weg Richtung Westen. Das Licht ist magisch, und ein friedlicher Vorabend legt sich über das Hochtal. Auf die blaue Stunde folgt die Nacht, doch das Engadin zieht sich noch lange, sehr lange nicht das Pyjama an. An vielen Orten hat man das Gefühl, dass das Licht nie gelöscht wird, und die Busse sind noch immer unterwegs. Marx hat schon lange Feierabend, jetzt sind seine Kollegen am Steuer. «Je nach Jahreszeit und Wochentag werden bestimmte Strecken fast bis in den Morgen hinein mit dem Nachtbus bedient», sagt er. Also fast so lange, bis am Horizont wieder die ersten Sonnenstrahlen hinter den Bergen auftauchen. (fb)
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